Phallus impudicus
Stinkmorchel
Wo immer hinter einem wissenschaftlichen Artnamen ein L. erscheint, ist eine botanische Art vom berühmten schwedischen Naturwissenschaftler Carl von Linné* mit einem binären Namen benannt worden. Binär bedeutet, der Name ist aus einem die Gattung und einem nachgestellten die Art bezeichnenden Begriff zusammengesetzt. Damals, im Jahre 1753, kannte man noch keine Hemmungen, bei der Namensvergabe dem Volk aufs Maul zu schauen. Ein Jahrhundert später ging man nicht mehr so arglos mit der Ähnlichkeit gewisser Erscheinungsformen um, wie die nachfolgend berichtete wahre Begebenheit zeigt:
“In unseren heimischen Wäldern wächst eine Art von Pilz, der in der Landessprache Stink-morchel genannt wird, obwohl er im Lateinischen einen unanständigeren Namen trägt. Der Name ist gerechtfertigt, denn man kann den Pilz allein nach seinem Geruch suchen: und das war Tante Ettys große Idee. Bewaffnet mit einem Korb und einem zugespitzten Stock, bekleidet mit einem besonderen Jagdumhang und Handschuhen, erschnüffelte sie sich ihren Weg im Wald, hie und da innehaltend, und ihre Nüstern zuckten, wenn sie eine Witterung ihrer Beute erhaschte. Dann schließlich, mit einem tödlichen Sprung, fiel sie über ihr Opfer her und warf einen scheußlichen Kadaver in ihren Korb. Am Ende war der ganze Fang nach Hause gebracht und in tiefster Heimlichkeit hinter verschlossenen Türen im Feuer des Salons verbrannt, der Sittlichkeit der Mädchen wegen.”
Zwei Erwähnungen aus dieser Schrift von Mrs. Gwen Raverat, in der sie ihre Erinnerungen an das Viktorianische Zeitalter im England des 19. Jahrhunderts beschreibt, bedürfen einer ergänzenden Erklärung. Erstens: der unanständige lateinische Pilzname lautet Phallus impudicus, was wörtlich und allgemeinverständlich übersetzt “Schamloser (erigierter) Penis” bedeutet. Zweitens: Bei der um die Moral der Mädchen besorgten Tante Elly handelt es sich um die Tochter des berühmten Naturwissenschaftlers und Begründers der Evolutionstheorie Charles Darwin, was zeigt, wie nahe im engsten Familienkreis unvoreingenommener Forschergeist und unaufgeklärte Dummheit beieinander wohnen können.
Richtig dagegen ist: Meist nimmt die Nase diesen Pilz wahr, bevor ihn das Auge entdeckt. Was unsere Nase als Gestank empfindet, lockt Aasfliegen an, die die Schleimschicht fressen und so die darin enthaltenen Pilzsporen verbreiten.
Die aufrechte Gestalt der Stinkmorchel ist nahezu jedem Naturfreund bekannt, aber nicht alle wissen, wie er sich entwickelt und wie der ganz junge Pilz aussieht. Im frühen Entwicklungsstadium ist er eine weißliche Kugel, die “Hexenei” genannt wird, sich schwabbelig anfühlt und von vielen für einen Bovist oder Stäubling gehalten wird. Bald reißt die äußere Hülle auf und gibt den Blick auf eine glitschige Masse frei, die den späteren Pilzkopf bildet.
Beim Schnitt durch ein noch vollständig geschlossenes Hexenei wird sichtbar, dass in seinem Inneren bereits der komplette spätere Fruchtkörper angelegt ist. Die vollständige Streckung des porösen weißen Stiels bis zu seiner endgültigen Länge von maximal 20 Zentimetern erfolgt innerhalb weniger Stunden und lässt sich im Zeitraffer sehr schön darstellen.
Mit echten Morcheln ist die Stinkmorchel übrigens nicht verwandt und nicht verschwägert. Dass man sie jedoch trotz aller unappetitlicher Vorzeichen im Hexenei-Stadium sogar roh essen kann, wird ihnen jeder erfahrene Leiter einer pilzkundlichen Wanderung gern vorführen. Wer danach sucht, findet im Internet auch Rezepte, wie man in Scheiben geschnittene Hexeneier in der Pfanne braten kann.
Stinkmorcheln findet man nicht nur in Wäldern. Sie kommen auch in Parkanlagen und Gärten vor, und das sogar bei trockenem Wetter, wenn kaum andere Arten wachsen. Ich habe schon mehrfach beobachtet, dass sie eine Art Vorhut bilden und bald nach ihrem Erscheinen einsetzendes Pilzwachstum ankündigen.
Es gibt einige Stinkmorchelverwandte, die sich ebenfalls aus Hexeneiern entwickeln und einen unangenehmen Geruch verströmen. In Mitteleuropa sind dies vor allem der Tintenfischpilz und die Hundsrute, deren Hexeneier deutlich kleiner sind. Das nachfolgende Foto zeigt den Unterschied. Links das Frühstadium der Stinkmorchel, rechts daneben ein aufgeschnittenes Hexenei des Tintenfischpilzes (Clathrus archeri), bei dem man schon Spuren der späteren roten Fruchtkörperfarbe erkennen kann.
2020 wurde die Stinkmorchel von der DGfM (Deutsche Gesellschaft für Mykologie) zum Pilz des Jahres gekürt und zur Begründung auch anrüchige Fakten genannt:
Sie stinkt zum Himmel und ihre Form bringt manche auf unanständige Gedanken. Dabei ist sie auch ein Leckerbissen für Insekten. Geruch und Aussehen haben der Gewöhnlichen Stinkmorchel unschöne Vergleiche eingebracht. Seine Form bescherte dem Pilz seinen lateinischen Namen: “Phallus impudicus” bedeutet so viel wie “unzüchtiger Penis”.
Phallus impotenta
Freitag, 10. Oktober 2003. Man freut sich immer, wenn im Fernsehen mal wieder das Thema Pilze aufgegriffen wird. Um 17:10 Uhr habe ich den NDR und die Sendereihe „Das!“ eingeschaltet. Im angekündigten Beitrag zur Pilzsaison sieht man einen vertrauenswürdigen alten Herrn durch seinen Wald streifen, der vor der Kamera seine Funde erklärt: Steinpilze, Maronen, ein Perlpilz, ein Büschel unverträglicher Schwefelköpfe. Und dann schwenkt die Kamera wieder auf den Waldboden, um auf eine stolz und aufrecht in der Laubstreu stehende Stinkmorchel zu zoomen. Unser Experte ist bemüht, auch diesen Fund zu benennen. Man sieht ihm an, wie es in seinem Kopf arbeitet, wie er den Namen sucht, der ihm partout nicht einfallen will. Vielleicht spielt da ein wenig Lampenfieber eine verständliche und nachvollziehbare Rolle. Dann hat er ihn gefunden, den vorübergehend in seinen Speicherzellen verschütteten wissenschaftlichen Pilznamen, und er spricht ihn klar und deutlich ins Mikrofon: „Das Ding heißt „Phallus impotenta!“
- Carl von Linné (1707 - 1778) hatte offenbar große Probleme, die Pilze in seinem taxonomischen System einzuordnen. Er wusste sich nicht anders zu helfen, als sie in der Unterkategorie “Chaos” im Tierreich unterzubringen. Damit kommt er der Wahrheit jedoch schon recht nahe, denn nach heutigem Verständnis stehen Pilze den Tieren näher als den Pflanzen, auch wenn er sie dem Sinne nach als “Chaoten” bezeichnet hat.
Mehr über die Verwandtschaft der Stinkmorchelartigen erfahren Sie hier >
Weiterführende Literatur:
- http://tintling.com/pilzbuch/arten/p/Phallus_impudicus.html
- H. Schmid & W. Helfer: Pilze (Wissenswertes aus Ökologie, Geschichte und Mythos)