Psathyrella multipedata
Büscheliger Faserling
„Die typischen Büschel enthalten oft 30 – 50 Hüte“, schrieb Ewald Gerhard (Der große BLV Pilz-führer, 1997), dem man kaum einen Hang zum Übertreiben nachsagen kann. Dieses Erscheinungsbild ist fast schon die halbe Miete zur Bestimmung von Psathyrella multipedata, dem Büscheligen Faserling. Allein der wissenschaftliche Name ist eine kurz gefasste, wenn auch im wörlichen Sinne nicht ganz korrekte Artbeschreibung: multipedata heißt „vielfüßig“ und impliziert die Vorstellung eines Fruchtkörpers mit vielen Stielen, was so natürlich nicht zutrifft. So dicht gedrängt sie erscheinen mögen, so hat doch jedes Hütchen nur einen Stiel.
Die im Zweifelsfall noch fehlende Lücke bei der Artbestimmung kann leicht geschlossen werden, indem man auf den Standort (nicht an Holz!) achtet und die Stiele bis zur Basis verfolgt. Sie entspringen alle einer im Substrat eingesenkten strunkartigen Pseudorhiza, einem dicken Hyphenstrang, der einer wurzelnden Verlängerung gleicht und daher auch Scheinwurzel genannt wird. „Schein…“ – denn Pilze haben nun mal keine Wurzeln im botanischen Sinne. Hat man sich die auffällige Erscheinungsform einmal eingeprägt (wozu meist ein einziger Fund genügt), sollte man solche den Lebenszyklus des Pilzes störende Nachforschungen ins Substrat geflissentlich unterlassen. Man wird ihn künftig mit Kennerblick schon aus einiger Entfernung wiedererkennen und für Speisezwecke kommt er eh nicht in Frage. Pilze nach Farbfotos bestimmen – ein unhaltbarer Anspruch auf so manchen Titelseiten populärer Pilzbücher – beim Büscheligen Faserling wird das in der Regel gelingen. Er ist eine der am leichtesten identifizierbaren Arten im verwirrenden Reich der Pilze.
Versuche, ihn mit der Kleinen Kryptogamenflora II b (dem „Moser“) zu bestimmen, gestalten sich dagegen schwierig und führen ohne mikroskopische Detailprüfungen nicht zum Ziel. Allein um in die richtige Sektion zu gelangen, sind 6 Bestimmungsschritte erforderlich, bei denen Form und Vorhandensein besimmter Zystiden, Sporengröße und Velumeigenschaften zu beurteilen sind. Ähnliches gilt auch für neuere Schlüssel.
Zur Abundanz finden sich in der Literatur Angaben wie „selten“, „zerstreut“ oder „nicht häufig“. So ist unsere Art in Rose Marie Dähncke´s Werk „700 Pilze in Farbfotos (1982) nicht enthalten, obwohl die Autorin im Vorwort betont: „Es zeigt, was man in 16 Jahren finden kann, wenn man möglichst täglich im Wald ist und darüber hinaus das Glück hat, zur rechten Zeit am richtigen Fleck zu suchen.“ Den Büscheligen Faserling hat sie offenbar nicht aufspüren können. Mehr Glück hatte Hanna Maser. In der Südwestdeutschen Pilzrundschau (2/1985) berichtete sie von vier Kollektionen zwischen 1959 und 1984 im Raum Stuttgart (vier Kollektionen in 26 Jahren!) und benannte so namhafte Experten wie Hans-Otto Baral und Hans Steinmann als Zeugen, Finder und Bestimmer. Beigefügt war eine Fotografie von Achim Bollmann, die ich für eines der schönsten Pilzfotos halte, das ich je gesehen habe. Fast zeitgleich, im August 1985, entdeckte ich vier Büschel von P. multipedata unter Himbeergestrüpp am Bahnhof von Buchschlag. Mit dem Foto von Achim Bollmann im Hinterkopf war die Bestimmung eine leichte Übung. Der Fund erwies sich vorerst als Eintagsfliege. Gut 10 Jahre lang bin ich diesem Pilz kein einziges Mal mehr begegnet, obwohl ich ihn auf Anhieb wiedererkannt hätte und viel in der Natur unterwegs gewesen bin.
Seit Mitte der 1990er Jahre hat sich mit einer geradezu explosionsartigen Ausbreitung dieses wunderschönen Pilzes die Situation grundlegend geändert. Am 24.09.1996 fielen mir sieben nahe beieinander wachsende, ca. 40- bis 60-hütige Pilzbüschel auf einem grasigen bis ruderalen Brachgelände südlich von Dietzenbach ins Auge. Zwei der üppigen Sträuße – so könnte man in der Tat das Erscheinungbild mit blumigen Worten umschreiben – hatten altersbedingt schwarz verfärbende Hutflächen, andere präsentierten sich knackfrisch mit speckig glänzenden, ocker- bis lederfarbenen, kegeligen Hütchen. Bereits zwei Wochen später der nächste Fund. Zwei auffällige Büschel in einem Park im Stadtzentrum von Dietzenbach. Auf der quasi glattrasierten Rasenfläche boten sie einen unübersehbaren Blickfang. Ab 1997 überschlugen sich die Ereignisse. Funde im Scheerwald zwischen Buchrainweiher und Sachsenhausen an ruderalen Waldwegrändern, auf Rasenfläche beim Wasserhochbehälter im Offenbacher Lohwald, im NSG Schweinhecke unter Erlen, am Silchen und Wollwiesenteich bei Dietzenbach sowie im Ansfeldwald bei Nieder-Roden, waren nur noch als frappierend zunehmende Abundanz zu deuten – ein Trend, der sich 1998 fortsetzte. Im Stadtgebiet von Dietzenbach habe ich den Büscheligen Faserling zwar nicht mehr gesehen (vielleicht, weil ich zur falschen Zeit am falschen Ort war, vielleicht auch wegen gärtnerischer „Pflege“), dafür sind in Frankfurt neue Fundpunkte hinzugekommen: Anlagenring Nähe Eschenheimer Tor, Heddernheim auf Grünfläche zwischen Wohnanlagen und auf einer Grasfläche an der Bushaltestelle Hainer Weg.
Der Maximal-Aspekt von allen Funden war jedoch am Wollwiesenteich zu beobachten. Bereits 1997 habe ich hier über 40 Vorkommen festgestellt und bis in die Frostperiode im November und Dezember im Auge behalten. In Anbetracht ihrer zerbrechlichen Konsistenz (eine typische Psathyrella-Eigenschaft) haben sie eine erstaunliche Kälteresistenz an den Tag gelegt und steifgefroren ihr Erscheinungsbild konserviert. Im Spätsommer bis Herbst 1998 konnten über 50 Vorkommen rund um den Teich registriert werden: auf grasigen Flächen, in ruderalen Senken bis hin in ein erlenbruchartiges Biotop, in dem die üppigsten Büschel mit z. T. über 100 Fruchtkörpern wuchsen. Sie erschienen so gedrängt, dass randständige Pilze zum Abknicken und Umfallen gezwungen wurden. Schon Frau Maser hat von Kollektionen mit 80 Fruchtkörpern berichtet und das abgebildte Foto belegt, dass dies unter günstigen Fruktifikationsbedingungen nicht das Ende der Fahnenstange ist. Ewald Gerhardt wird seine Angabe über die Maximalzahl an Pilzhüten in einem Büschel getrost verdoppeln dürfen.
Wichtiger als Rekordmeldungen ist hingegen die Frage: was hat die erstaunliche Ausbreitung von P. multipedata im Rhein-Main-Gebiet verursacht oder begünstigt, für die im Verbreitungsatlas nur drei hessische Fundpunkte und keine südlich der Mainlinie verzeichnet sind? Dies scheint nicht nur ein lokales Phänomen zu sein. Auch Karin Montag und Helgo Bran haben mir von zunehmend häufigeren Funden in ihren Beobachtungsgebieten (Saarland, Breisgau) berichtet. Von Manfred Enderle, einem deutschen Spezialisten für die Gattung Psahyrella, war sogar zu erfahren, es gäbe eindeutige Hinweise auf eine europaweite Zunahme.
Nach 2008 war Psathyrella multipedata an allen bekannten Fundstellen im Rhein-Main-Gebiet stark rückläufig bzw. ist ganz ausgeblieben. Um so erfreulicher, dass er am Wollwiesenteich in Dietzenbach (TK 2948.4.3) wieder aufgetaucht ist, und zwar zu einem bemerkenswert frühen Zeitpunkt in der ersten Maihälfte und auch in all den Jahren danach mit wenigstens mit drei, vier oder fünf Büscheln.